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Offene Beziehung: Totales Vertrauen oder Freibrief zum Fremdgehen?

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Nachgefragt: Kann eine offene Beziehung gutgehen?

Eine Beziehung ist dann offen, wenn beide Partner einander erlauben, auch mit anderen Sex zu haben. Ein Wagnis, das nicht immer gutgeht. Schließlich kommt meist schnell die Eifersucht ins Spiel und man überschätzt sich selbst und seine Toleranzfähigkeit. Und schon ist man unglücklich und die Probleme sind da. Wo die Tücken liegen und wie eine offene Beziehung funktionieren kann, das haben wir Dr. Frauke Höllering gefragt.

Offene Beziehung – ein Thema, das schon seit einiger Zeit durch meinen Bekanntenkreis spukt. Dabei ist die Mehrheit skeptisch. Irgendwann kommt eben doch die Eifersucht dazwischen. Aber ist das so? Was ist dran an dem offenen Beziehungsmodell? Wir haben dazu den Diplom-Psychologen Robert A. Coordes befragt.

Inhaltsverzeichnis

Ein paar wenige haben das Modell „offene Beziehung“ bereits ausprobiert, sind daran gescheitert oder haben darin in der Tat ihr Glück gefunden. Oft haben diese Leute eine ähnliche Geschichte: Man liebe seinen Partner noch, wolle miteinander alt werden, aber die Sexualität sei ausbaufähig bis eingeschlafen.

Um sich nicht zu trennen, wird nach einem Ausweg gesucht. Die Beziehung wird nach außen geöffnet, neue Freiheiten gewährt, insbesondere in Sachen Sex. Klingt alles ganz nachvollziehbar – zumindest in der Theorie.

Aber kann dieses Beziehungsmodell wirklich auf Dauer funktionieren – so, dass beide Partner glücklich sind? Wir sind letztlich sehr geprägt von der Idee von Monogamie, Treue und Exklusivität. Wie leicht können sich Paare hiervon freimachen? Und: Welche Regeln müssen bei einer offenen Beziehung eingehalten werden, wenn es denn überhaupt noch Regeln gibt? Was sagen Experten dazu?

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Wie funktioniert eine offene Beziehung?

Nüchtern betrachtet kann das Öffnen einer kriselnden Beziehung diese am Ende retten. Eine Menge Menschen gehen fremd, wenn der Reiz des Neuen verflogen ist und im Bett nicht mehr die Leidenschaft erster Tage herrscht.

Seien wir mal ehrlich: Der Reiz, den andere Menschen auf uns ausüben, ist nicht deshalb gleich null, nur weil man in einer Beziehung lebt. Oft trifft man eine Person, die einen total umhaut, und das, obwohl man glücklich liiert ist. Und das ist völlig normal und verzeihlich, weil es eben vielen Menschen so geht. Wichtig ist nur, welche Konsequenz man daraus zieht. Und ob alle Beteiligten damit gut leben können.

Nicht wenige Gebundene treibt auch die Sehnsucht an, noch einmal verliebt zu sein, sich begehrt zu fühlen, einen neuen Menschen näher in sein Leben zu lassen und das zu genießen. Und genau darum geht es auch bei der offenen Beziehung.

Die Theorie: Eine offene Beziehung kann beiden Partner*innen diesen Wunsch erfüllen, beider Zufriedenheit steigern und so die „Hauptbeziehung“ festigen und erhalten. Aufregung und Leidenschaft plus Vertrautheit und Geborgenheit. Doch funktioniert das?

„Nein“, sagen die Skeptiker. Schließlich will man seinen Partner nicht teilen. Die offene Beziehung muss früher oder später scheitern. „Ja“, sagt der Experte, Diplom-Psychologe Robert A. Coordes, Gründer und Leiter des Berliner Instituts für Beziehungsdynamik in Berlin-Schöneberg.

„Eine offene Beziehung kann genauso funktionieren wie eine sogenannte ’normale‘ Beziehung. Für uns Therapeuten funktioniert eine Beziehung dann gut, wenn beide Partner sich entwickeln und differenzieren können. Es gibt nicht die eine, ideale Beziehungsform.“

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Offene Beziehung: Hohe Anforderungen an beide Partner

Was in der Theorie funktionieren kann, muss sich in der Praxis noch lange nicht bewähren. Die offene Beziehung stellt hohe Anforderungen an die Beteiligten. Coordes sagt: „Viele offene Beziehungen scheitern an einer fehlenden Offenheit. Die meisten Partnerschaften nennen sich zwar offen, de facto heißt das aber nur, dass beide Partner mit anderen Sex haben dürfen.“

Aber was, wenn Gefühle im Spiel sind? Denn wirkliche Offenheit hieße, dem Partner offen zu sagen, dass es noch andere Partner gibt und auch, welche Gefühle dabei im Spiel sind. Aber will der andere wirklich hören, wie das Treffen bzw. die Nacht mit dem Dritten war?

Oder dass es dabei um mehr als bloßen Sex ging? Denn tatsächlich kann es ja durchaus sein, dass aus einem One-Night-Stand plötzlich etwas entsteht, dass die „Hauptbeziehung“ in arge Bedrängnis bringt.

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„Wenn es um Gefühle geht, wird es oft schwierig“, erklärt der Experte. „Daher bedeutet ‚Offenheit‘ zunächst einmal die potenzielle Offenheit im Umgang miteinander.“ Beide Partner müssen erkennen, dass jeder letztlich nur sich selbst gehört und sonst niemandem – nicht dem Partner, nicht der Affäre. Besitzdenken ist in der offenen Beziehung eben fehl am Platz.

Doch das ist in der Praxis nicht immer leicht, wie der Experte erklärt: „In vielen Beziehungen geht es um Versteckspielchen. Beide verheimlichen dem anderen, wie groß die sexuelle oder amouröse Anziehung von Dritten ist.“ Man könne also nicht wirklich von einer ‚offenen Beziehung‘ sprechen, sondern eher von einer eigentlich monogamen Beziehung mit vielen Tabus.

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Die wichtigsten Regeln für die offene Beziehung

„Treue hat mit Vertrauen zu tun, nicht mit Sex“, erklären Verfechter der offenen Beziehung. Reden ist für sie der Schlüssel zum Erfolg des Beziehungsmodells. Nur so kann in der Partnerschaft das beidseitige Vertrauen aufrechterhalten werden – die Basis einer jeden Partnerschaft, auch einer offenen Beziehung.

Jeder ist glücklich, wenn der andere glücklich ist – so der Grundgedanke. Und um ihre gemeinsame Liebe zu stärken, verbringen die Partner sehr viel Zeit miteinander.

Aber auch Regeln sind ein Muss. So spießig es klingt: Der Rahmen der offenen Beziehung muss genau abgesteckt werden. Manche Paare beschränken sich beispielsweise auf den reinen Sex. Affären, Urlaube oder aushäusige Übernachtungen sind tabu.

Festgelegt wird auch, ob und wie detailliert man daheim über seine Abenteuer berichtet. Wie viel Wahrheit ist wichtig, wie viel zu viel?

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Diese Punkte sollten Paare für sich klären

# Sind beide mit dem Modell offene Beziehung zufrieden und happy? (Nach einiger Zeit sollten sich hier beide ehrlich ein Update geben, ob sie immer noch von dieser Beziehungsform überzeugt sind.)
# Treffen beide gleichermaßen andere Personen oder ist es eher einer, der von der offenen Beziehung profitiert?
# Wie steht es mit Verhütung und dem Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten?
# Welche Menschen sind tabu? Also wie ist es mit Freunden, Ex-Partnern, Verwandten, Kollegen etc.?
# Wie geht man mit der gemeinsamen Wohnung um: Sind hier Treffen erlaubt oder sind die eigenen vier Wände tabu?
# Ist es in Ordnung, auswärts zu übernachten, oder nicht?
# Wie viel möchte man sich gegenseitig über die Treffen mit den anderen Personen erzählen?
# Sind polyamore Verhältnisse auch ok, also wenn Gefühle dazukommen oder darf es nur rein sexuelle Kontakte außerhalb der Beziehung geben?
# Sind mehrere Treffen mit ein und derselben Person in Ordnung?

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Steckt hinter einer offenen Beziehung Bindungsangst?

Skeptiker überzeugt das nicht. Ist die offene Beziehung in Wahrheit nicht eine Form von Bindungsangst? Der Experte sagt: „Natürlich kommt das vor. Es gibt Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich verbindlich auf einen anderen einzulassen.

Mit dem Etikett ‚offene Beziehung‘ lässt sich das gut tarnen. Daneben gibt es jene, die sich nur deshalb für eine offene Beziehung entscheiden, weil sie Angst haben, etwas Spannendes zu verpassen.“

Das häufigste Motiv sei jedoch ein anderes, so Coordes. „Die meisten Menschen verlieben sich irgendwann einmal in einen Menschen außerhalb der Beziehung. Wer sich nicht trennen will oder kann, sei es aus Liebe oder sexueller Attraktion oder einfach darum, weil keine Notwendigkeit gesehen wird, wählt die offene Beziehung als Alternative.“

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Eifersucht und Vertrauen in offenen Beziehungen

Doch wie sieht es mit dem Thema Eifersucht aus? „Eifersucht ist in Wahrheit ein Label für recht unterschiedliche Gefühle und Gefühlszustände, die immer sehr persönlich sind,“ so der Experte. Manche Menschen erleben Verrat oder die Angst, verlassen zu werden, andere sind konfrontiert mit ihren eigenen Selbstzweifeln. Hier zeigen sich Beziehungserfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben.

In monogamen Beziehungen versuchen die Partner üblicherweise, solche Gefühle und Ängste zu umschiffen. Sei es, indem sie Eifersucht auslösende Situationen tabuisieren oder indem sie sich beständig ihrer gegenseitigen Treue versichern.

Diese Art der Verdrängung ist in den offenen Beziehungen hinfällig. Beide Partner werden mit ihren Ängsten konfrontiert. Und da ist es kaum verwunderlich, dass deshalb Eifersucht und Unsicherheiten in offenen Partnerschaften durchaus ein großes Thema sind.

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Leiden Kinder unter der offenen Beziehung der Eltern?

Vor allem, wenn gemeinsame Kinder da sind, erfordert eine offene Beziehung beiden Partnern deutlich mehr ab, als eine monogame Beziehung. Schließlich brauchen Kinder ein gewisses Maß an Stabilität.

Hier ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt, damit nicht letztlich die Kinder unter der offenen Beziehung der Eltern leiden. Gleichwohl werden die wenigsten Menschen die Gründung einer eigenen Familie und das Modell der offenen Beziehung gleichzeitig für sich wählen.

Wenn alle Beteiligten jedoch die Familie und das Wohl der Kinder an oberste Stelle setzen, warum sollte dann ein liebevolles Miteinander und eine offene Beziehung samt Toleranzdenken und sensiblem Umgang nicht ein gutes Lebensmodell sein?

Auch hier sollte man sich mit voreiligen Rückschlüssen zurückhalten. Wenn niemand der Beteiligten darunter leidet, sollte jeder die Freiheit für sich besitzen, seine Art der Liebe zu zelebrieren und zu leben. Auch Eltern.

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Offene Beziehung: Nicht für jeden praktikabel

Wer sich selbst genug kennt, seine Ängste im Griff zu haben glaubt und einen Partner findet, der ähnlich denkt, kann das Experiment wagen, meint Robert Coordes. „Letztlich kann eine Beziehungsform, egal welcher Art, keine Lösung für irgendetwas sein. Unsere eigene Haltung und unsere Erfahrungen nehmen wir mit in unsere Partnerschaften.“

Im Klartext: Wir werden unsere Beziehungen immer so führen, wie uns das individuell möglich ist. Eine offene Beziehung zu führen, kann die persönliche Entwicklung intensivieren, davon ist Coordes überzeugt.

Wir erkennen jedoch auch: Sie ist nicht für alle praktikabel und für viele auch nicht erstrebenswert. Die Diskussionen und Experimente werden also weitergehen. Und das ist irgendwie auch gut so.

Gleichwohl ist es eine gute Entwicklung, dass es mehr Beziehungsmodelle gibt, als nur die traditionelle Ehe und nichts anderes. Wir denken heute weniger heteronormativ (also nicht nur an Beziehungsmöglichkeiten zwischen Mann und Frau) und sind insgesamt toleranter geworden gegenüber anderen Lebens- und Beziehungsformen.

Diese Entwicklung ist gut, denn so schaffen wir vielleicht irgendwann eine Welt, in der es mehr zufriedene Menschen und mehr Liebe gibt. Wir müssen nur bei all der Selbstverwirklichung und Selfcare auch immer daran denken, nicht zum egoistischen Elefanten im Porzellanladen zu werden.

Ehrlichkeit ist in einer Beziehung vielleicht wertvoller als Exklusivität. Eine Frage, die man sich durchaus mal stellen sollte in Anbetracht der vielen Affären und Fremdgeher. Ein respektvolles und liebevolles Miteinander sollte Voraussetzung sein, egal ob Ehe, monogame Beziehung, platonische Liebe, Mingle, Polyamorie, Polygamie, Friends with Benefits oder eben offene Beziehung. So viel sollte klar sein.