„Guten Morgen, Iva“, sagt Delia zu ihrem Mann, der neben ihr im Ehebett liegt. Seine Antwort folgt prompt: Eine schallende Ohrfeige. Der Rest von Delias Tag verläuft ähnlich zermürbend: Sie schmeißt den Haushalt, macht das Frühstück und bereitet die Kinder für die Schule vor, während ihr Mann ihr vorwirft, dass sie nichts tauge.
Sie pflegt ihren Schwiegervater, während der sie begrapscht und von den Faschisten schwärmt. Sie rennt von Minijob zu Minijob, wo sie hört, dass die Meinung von Frauen nichts wert sei; wo sie einen Lehrling einarbeitet, der mehr verdient als sie; wo sie die Treppe nehmen muss, weil sie mit ihr im Fahrstuhl fahrende Männer sonst „in Versuchung führen könnte“.
Delias Geschichte spielt 1946, im Rom der Nachkriegszeit, und ist, angelehnt ans Kino zu dieser Zeit, komplett in schwarz-weiß gehalten. Doch so düster die Erzählung, die Regisseurin Paola Cortellesi zeichnet, so überraschend heiter ist die Musik, mit der sie die Realität der Hauptdarstellerin kontrastiert – von romantischen Balladen, über RnB und Italo-Pop bis hin zu amerikanischem Rap.
Skurril-lustige Szenen tragen darüber hinaus zu einer fast vergnüglichen Atmosphäre bei, die trotz der schweren Themen des Films anhält. Cortellesi, die auch die Hauptrolle der Delia spielt, erzählt in „Morgen ist auch noch ein Tag“ (original: C’è ancora domani) die Geschichte einer außergewöhnlichen Emanzipation.
Mit diesem Regiedebüt hat Paola Cortellesi, die zudem als Co-Autorin des Drehbuchs ist, Kinorekorde in Italien gebrochen. Nun startet ihr Film auch in den deutschen Kinos. Unsere Autorin Camille Haldner hat sie in Berlin zum Interview getroffen.
Camille Haldner: Ihr Film hat in Italien Rekorde gebrochen. Haben Sie eine Theorie, weshalb er so viele Menschen ins Kino lockt, obwohl er so schwere Themen behandelt?
Paola Cortellesi: „Der Film erschien zu einem Zeitpunkt, an dem die Meldungen über häusliche Gewalt für viele Italiener*innen das Maß des Erträglichen bei Weitem überschritten hat. In Italien gibt es eine große Sensibilisierung für dieses Thema, da Femizide gezählt – etwa alle 72 Stunden wird eine Frau von einem Mann getötet – und medial diskutiert werden. Ich habe mit dem Film also einen Nerv getroffen.“
Camille Haldner: Fast jeden Tag versucht in Italien ein (Ex)-Partner eine Frau zu töten. Etwa jeden dritten Tag stirbt eine Frau dabei. Wie blicken Sie unter diesem Gesichtspunkt auf Ihr Heimatland?
Paola Cortellesi: „Ich wollte einen zeitgenössischen Film drehen, der toxische Dynamiken und Missbrauch in Paarbeziehungen aufgreift. Die Geschichte habe ich bewusst in der Mitte des 20. Jahrhunderts angesiedelt, um aufzuzeigen, was sich seither verbessert hat – wie etwa die Tatsache, dass schlagende Männer damals als normal galten und heute einen Skandal verursachen können – und was zugleich bis heute andauert.
Seit den 40er-Jahren ist in Sachen Gleichberechtigung viel passiert. Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht, auf das der Film Bezug nimmt, waren dabei ein erster Schritt. In den seither vergangenen Jahrzehnten haben viele Frauen dafür gekämpft, dass Gleichberechtigung Realität werden kann.
Wir sind tausend Schritte in die richtige Richtung gegangen. Auf Papier haben wir Gesetze, die uns ein gleichberechtigteres Leben ermöglichen sollen, frei von Unterdrückung und Gewalt.
Doch die kulturelle Mentalität passt sich dem nur sehr, sehr langsam an. Diese Diskrepanz zwischen theoretischer und tatsächlich gelebter Gleichberechtigung müssen wir überwinden. Dazu braucht es ein gesamtgesellschaftliches Umdenken.“
Camille Haldner: Wo müsste man aus Ihrer Sicht ansetzen, um einen solchen Kulturwandel zu erwirken?
Paola Cortellesi: „Die Erziehung ist ein Schlüsselfaktor. Ich glaube, dass das Bildungswesen eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt spielen könnte und man dort bereits ab Schulbeginn ansetzen sollte. Wir brauchen Unterrichtsfächer, die einen gesunden Umgang mit unseren eigenen Emotionen lehren und die vermitteln, wie wir respektvoll miteinander umgehen.“
Camille Haldner: Ihr Film wurde tausenden Teenagern in Schulen gezeigt, um für das Thema zu sensibilisieren. Reicht das?
Paola Cortellesi: „Es ist wunderbar, dass Lehrpersonen mit ihren Schüler*innen in Vorstellungen des Films gehen. Tatsächlich erhielt der Filmverleih von ,Morgen ist auch noch ein Tag‘ so viele Anfragen, dass sogar ein großes Streamingevent organisiert wurde. Der Film wurde an einem einzigen Tag 56.000 Schüler*innen gezeigt und im Anschluss gab es via Konferenzschaltung eine Diskussion über die Themen des Films.
Das war fantastisch und für mich persönlich sehr bewegend. Allerdings ist das alles auf die Initiative von Lehrpersonen zustande gekommen. Ich sehe aber die italienische Regierung in der Verantwortung, entsprechende Bildungsangebote in Schulen zu schaffen.“
Camille Haldner: Was sollen die Zuschauer*innen aus dem Film mitnehmen?
Paola Cortellesi: „Bei Frauen soll der Film den Wunsch nach bewusst gelebter Freiheit wecken. Von den Männern – die immerhin 45 Prozent des Kinopublikums ausmachen – wünsche ich mir, dass sie den Drang verspüren, sich am Kampf für Gleichberechtigung zu beteiligen.“
Camille Haldner: Der Film zeigt viele düstere Szenen, die Lage von Delia ist mehrheitlich bedrückend – zugleich arbeiten Sie viel mit Humor, mit überzeichnenden Elementen.
Paola Cortellesi: „Das entspricht meiner Haltung, dem Leben stets mit einer gewissen Leichtigkeit begegnen zu wollen. Ich meine damit nicht Oberflächlichkeit. Vielmehr versuche ich dadurch, Schwere auszugleichen und dem Drama etwas entgegenzusetzen.
Diese Herangehensweise wählte ich auch beim Schreiben des Drehbuchs. Ich wollte das Publikum nicht mit dieser schwer erträglichen Dunkelheit und Grausamkeit auslaugen. In diesen absurden Szenen können sie durchatmen, quasi Luft holen für das, was folgt. Die Tyrannen nehmen viel Raum im Film ein, umso wichtiger war es mir zu zeigen, was für lächerliche Gestalten sie doch sind und ihnen damit etwas von ihrer bedrohlichen Macht zu nehmen.“
Camille Haldner: Sie erzählen diese Geschichte der Emanzipation anhand einer „gewöhnlichen“ Frau. Weshalb?
Paola Cortellesi: „Es gibt jene Frauen, die für unser aller Emanzipation Großes geleistet und dadurch öffentliche Aufmerksamkeit erlangt haben. Ihnen verdanken wir viele Gesetze zur Gleichberechtigung. Diesen Errungenschaften liegen jedoch oft Privilegien zugrunde, der Zugang zu Bildung und generell Möglichkeiten, durch die man ein eigenes politisches Bewusstsein entwickeln kann.
Und dann gibt es jene anderen Frauen, die zur unsichtbaren Masse gehören, deren Errungenschaften unerwähnt bleiben und an die sich niemand erinnern wird. Ihnen wollte ich diese Geschichte widmen. Den Frauen, die keine gesellschaftliche Anerkennung erfahren, die Großes im Kleinen geleistet haben.
Frauen wie Delia, deren Kampf für Emanzipation nicht auf einem intellektuellen Fundament fußt, sondern auf Instinkt. Frauen, die realisieren, dass auch ihr Handeln nicht ohne Folgen bleibt, sondern einen Unterschied für jene macht, die nach ihnen folgen.
Am Ende ist es egal, wie wir dieses Bewusstsein erlangen, wichtig ist vor allem, dass wir an diesen Punkt kommen. Im Falle von Delia war entscheidend, dass sie erkennt, wie wichtig es ist, ihrer Tochter ein Vorbild zu sein und so zu verhindern, dass diese die gleichen toxischen Muster wiederholt.
Delia begreift, dass das nur gelingt, wenn sie die Tyrannei durch die Männer in ihrem Leben nicht mehr akzeptiert, sich ihrer Rechte bewusst wird und ihrer Tochter vorlebt, dass sie Respekt verdient hat.“
Camille Haldner: Was hat Sie dazu bewegt, diese Geschichte über häusliche Gewalt und die Emanzipation davon zu erzählen?
Paola Cortellesi: „Der Film ist keine autobiografische Geschichte per se. Es ist eine fiktive, aber dennoch wahre Erzählung. Denn: In den Film sind viele, viele Geschichten eingeflossen, die in meiner Familie erzählt wurden.
Meine Urgroßmütter und Großmütter sprachen oft über vergangene Zeiten. Sie hatten diese malerische Art zu erzählen, die einen direkt in die Hinterhöfe italienischer Wohnhäuser versetzte. Sie erzählten von diesen trubeligen Orten, an denen sich die Menschen getroffen, gearbeitet, getanzt, gesungen und über ihren Lebensalltag gesprochen haben.
Neben schönen und lustigen Anekdoten erzählten sie aber auch von den Schreien, die aus den Wohnungen in diese Höfe drangen. Schreie von Frauen, die von ihren Männern misshandelt wurden. Das hat mich bereits als Kind sehr berührt und geprägt. Das Thema der geschlechtsspezifischen Gewalt zieht sich durch meine Arbeit, sei es für Film, Fernsehen oder Theater.
Die Erzählungen meiner Vorfahren in einem Film zu inszenieren, ist eine Hommage an die Menschen, die vor mir kamen – und ein Stück konservierte Familiengeschichte für jene, die nach mir folgen.“
-> „Morgen ist auch noch ein Tag“ ist ab sofort auch in den deutschen Kinos zu sehen.
Dieser Artikel erschien erstmals bei unseren Kolleg*innen von Edition F.