Die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit ist nach wie vor eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen. Frauen übernehmen immer noch den Großteil der unbezahlten Arbeit – von Kindererziehung bis zur Pflege von Angehörigen. Das beeinflusst nicht nur ihre beruflichen Chancen, sondern vertieft auch die Geschlechterungleichheit. Ein Interview mit der Rechtsanwältin Sandra Runge.
Sandra Runge ist Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Mutter zweier Söhne aus Berlin. Sie berät seit über zehn Jahren Eltern, insbesondere Mütter, zu allen Rechtsfragen und Benachteiligungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Elternzeit und Wiedereinstieg. Sie engagiert sich für Elternrechte und weist über soziale Netzwerke und als Autorin immer wieder auf rechtliche Missstände hin.
Yvonne Weiß: Sandra, du scheinst sehr mutig zu sein, du verklagst die Bundesrepublik Deutschland wegen Nichtumsetzung der Familienstartzeit, ein Staat klingt erst einmal wie ein starker Gegner. Welche Reaktionen hast du geerntet?
Sandra Runge: Es gab extrem großes Interesse und auch Hoffnung, denn bei vielen war die Enttäuschung über die Nichteinführung der Familienstartzeit sehr groß. Da wurden Lebenskonzepte und Planungen komplett über den Haufen geworden, weil unsere Regierung das, was sie in den Koalitionsvertrag geschrieben und für Anfang 2024 angekündigt hatte, nicht umgesetzt hat.
Viele Väter – und natürlich auch Mütter – hatten schon fest mit der zweiwöchigen bezahlten Freistellung nach der Geburt geplant. Viele Eltern haben sich gefragt, ob das rechtens ist, was die Regierung da macht bzw. unterlässt und ob man dagegen juristisch vorgehen kann.
Ich bin daher sehr froh, dass sich ein Vater entschieden hat zu klagen und inzwischen auch viele weitere Väter. Diesen Vätern geht es gar nicht unbedingt um die zwei Wochen Urlaub. Sie wollen Druck ausüben, weil die Familienstartzeit ein tolles Zeichen für alle Väter und Familien wäre und Väter ermutigt in der sensiblen Zeit nach der Geburt Fürsorgeverantwortung zu übernehmen.
Das Tolle an der Familienstartzeit ist, dass diese als Rechtsanspruch ausgestaltet wäre, genau wie der gesetzliche Mutterschutz der Frau vor und nach der Geburt. Das heißt, kein Vater muss mit seinem oder seiner Vorgesetzten diskutieren, wenn er die zwei Wochen bezahlte Freistellung nach der Geburt beanspruchen will.
Yvonne Weiß: Welche Erfolgsaussichten hat die Klage auf Schadensersatz?
Sandra Runge: Wir sind der festen Überzeugung, dass Deutschland eine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, weil die EU-Vereinbarkeitsrichtlinie nicht umgesetzt wurde und dadurch Schadensersatzansprüche entstanden sind. Die Herausforderung ist, das zu beweisen.
Die Bundesregierung sagt, es sei keine Pflicht verletzt worden, weil das Elterngeld die Väter in den Wochen nach der Geburt absichert und eine ausreichende Regelung sei. Das sind aber ganz unterschiedliche Dinge. Außerdem ist die Familienstartzeit 100 % Gehalt und eben nicht nur 67 % oder 65 %, wie es beim Elterngeld der Fall ist.
Hinzu kommt, dass das Elterngeld mindestens zwei Monate geltend gemacht werden muss. Die EU-Kommission prüft jedenfalls aktuell, ob Deutschland EU-Recht verletzt hat, leider wissen wir zu den Inhalten und zur Dauer der Prüfung nur sehr wenig, da die Vorgänge auf EU- Ebene nicht sehr transparent sind.
Yvonne Weiß: Eigentlich hätten sie es ja bis zum 2.8.2022 umsetzen müssen.
Sandra Runge: Ja, das ist korrekt. Die Vorgängerregierung und das Familienministerium damals haben es sich sehr leicht gemacht mit der Umsetzung der EU-Richtlinie. Auch die Umsetzung weiterer Regelungen hat länger als vorgegeben gedauert.
Deshalb wurde gegen Deutschland ja sogar ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Das wurde zwar inzwischen eingeleitet, nachdem entsprechende Meldungen über die angeblich vollständige Umsetzung erfolgt sind. Die Prüfungen sind aber wie gesagt noch nicht abgeschlossen, da die Kommission aktuell eine tiefe inhaltliche Prüfung vornimmt.
Yvonne Weiß: In unserem Grundgesetz steht in Artikel 6: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Wie wird das verwirklicht? Ich habe diesen Schutz noch nie gespürt, im Gegenteil, was läuft da schief in unserer Familienpolitik?
Sandra Runge: Da gebe ich dir recht, nach meiner Wahrnehmung haben viele Eltern das Gefühl, dass die Regierung diese Artikel nicht wirklich priorisiert – obwohl es Teil unserer Verfassung ist: Das Elterngeld wird trotz steigender Inflation nicht erhöht. Die Familienstartzeit wird nicht eingeführt. Die Kindergrundsicherung lässt auf sich warten.
Leider haftet dem Familienministerium immer noch Gedöns-Charakter an – und es ist im Vergleich mit anderen Ministerien mit zu wenig finanziellen Mitteln ausgestattet. Das Problem ist, dass Erfolge in der Familienpolitik oftmals viel Zeit benötigen.
Wenn du beispielsweise die Geburtenraten erhöhen, mehr Kinderbetreuungsplätze schaffen oder Müttern flexiblere Arbeitsmodelle ermöglichen willst, das siehst du nicht in der Legislaturperiode innerhalb von vier Jahren, sondern das dauert.
Das ist kein Quick-Win wie: Wir erhöhen mal die Rente um 2 Prozent. Es geht um das Wählerklientel. Hätten wir Familien-Wahlstimmen nach der Anzahl unserer Kinder, dann würde das ganz anders aussehen. Stell dir vor, du dürftest mit zwei Kindern zwei Stimmen mehr an der Wahlurne abgeben. Dann wäre Familienpolitik auf einmal Prio 1, und das Familienministerium wäre mit sehr viel mehr Geld ausgestattet.
Yvonne Weiß: Eine Utopie…
Sandra Runge: Stimmt, denn in Wirklichkeit denken viele: Ja, die Eltern jammern und „Kinder bekommen sie ja trotzdem“. Ich sehe, wie viele Mütter und Väter struggeln müssen, die Realität ist hart, denn die Ressourcen und die Lobby fehlt.
Yvonne Weiß: Du schreibst in deinem Buch „Glückwunsch zum Baby, Sie sind gefeuert“, dass Elterndiskriminierung in deutschen Unternehmen täglich und systematisch stattfindet und listest viele Beispiele auf. Wenn man sich den Arbeitnehmermarkt anguckt, kann sich das eigentlich niemand mehr leisten, warum geschieht es dennoch?
Sandra Runge: Der Fachkräftemangel ist scheinbar noch nicht schlimm genug. In vielen Branchen bemüht man sich keineswegs, Mütter nach der Elternzeit wieder zu beschäftigen, ihnen ihre alten Jobs zu geben oder sogar zu befördern. Da werden am ersten Tag vor der Elternzeit bereits Aufhebungsverträge per Boten zugestellt, es gibt Versetzungen, Degradierungen oder Runtergruppierungen in Tarifstufen.
Was ich da als Anwältin schon alles erlebt habe… Das Schlimmste ist, dass man in vielen Fällen nicht gewillt ist, Lösungen zu suchen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Stattdessen heißt es: Tja, XY macht jetzt deinen Job und wir haben keine Verwendung mehr für dich.
Yvonne Weiß: Du hast es sogar persönlich erlebt, wurdest nach der Elternzeit entlassen.
Sandra Runge: Ich dachte eigentlich immer, es sei kein Problem: Nach der Elternzeit arbeite ich wieder so wie vorher. Ich war da völlig unbedarft, bis ich gemerkt habe, da passiert etwas ganz Seltsames im Hintergrund.
Und dann wurde ich gekündigt und freigestellt. Dass ich am ersten Tag nach der Elternzeit Hollywood-reif mit meiner Topfpflanze im Pappkarton den Arbeitsplatz verlassen würde, hätte ich so nie für möglich gehalten. Ich dachte, wir wären da irgendwie weiter.
Tja, da bleibt nur die Klärung vor Gericht. Ich habe eine gewisse Ohnmacht gefühlt. Jedenfalls war ich froh, als wir uns auf eine Abfindung geeinigt haben. Heute bin ich fast dankbar für diese Erfahrung, denn sie war der Auslöser für mein Engagement und meine Arbeit, die ich heute mit viel Herzblut mache.
Yvonne Weiß: Reden wir von Einzelfällen?
Sandra Runge: Nein, die Statistik der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass 64 Prozent negative Erfahrungen gemacht haben, also mehr als die Hälfte aller Mütter. Auch immer mehr Väter trifft es – vor allem dann, wenn sie länger als zwei Monate in Elternzeit gehen, oder in Teilzeit arbeiten wollen.
Es ist übrigens sehr bedauerlich, dass nicht das Familienministerium diese Recherchen in Auftrag gegeben hat und sich auch kaum zur Diskriminierung von Eltern in der Arbeitswelt äußert. Leider hat man den Eindruck, dass diese Thematik nicht wirklich im Fokus steht.
Yvonne Weiß: Warum würde es helfen, Elternschaft als Diskriminierungsmerkmal ins AGG aufzunehmen? Im Koalitionsvertrag steht schon die Absicht, das AGG anzupassen, aber wie werden aus Vorhaben Taten?
Sandra Runge: Es würde sehr helfen, denn es geht um Fürsorgeleistung beziehungsweise Fürsorgeverantwortung. Wir möchten Care-Arbeit als Diskriminierungsmerkmal ins AGG bringen. Wenn du Fürsorge-Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmst, sei es ein Kind, sei es die demente Oma, sei es die kranke Nachbarin, dann darfst du im Job nicht schlechter behandelt werden. Punkt.
Das würde die Position von Eltern und insbesondere von Müttern in Elternzeit sehr viel mehr stärken. Und die Wichtigkeit von Fürsorge würde damit auf ein ganz anderes Level gehoben.
Nehmen wir das Beispiel Inflationsausgleichsprämie während der Elternzeit, die viele Mütter und Väter nicht erhalten haben. Eine Nichtzahlung wäre dann eindeutig unzulässig und wir müssten dazu keine jahrelangen Prozesse führen, so wie ich aktuell beim Bundesarbeitsgericht.
Yvonne Weiß: Es gibt in Deutschland 13 Millionen Eltern, die mindestens ein Kind unter 15 Jahren groß ziehen – und 41 Prozent von ihnen fühlen sich diskriminiert im Job. Das ist doch alarmierend. Warum hat Fürsorgearbeit einen so geringen Stellenwert in unserer Gesellschaft?
Sandra Runge: Care-Arbeit gilt als privat und weiblich. Ihr wird im Gegensatz zu klassischer Erwerbsarbeit weniger Wert beigemessen. Dabei hält sie unsere Gesellschaft zusammen. Und: unsere Gesellschaft kann ohne sie nicht existieren. Man stelle sich vor, alle die Fürsorgearbeit leisten und Fürsorgeverantwortung tragen, würden streiken…
Situationen, die daraus folgen würden, wie zum Beispiel der Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems, leere Kitas und nicht versorgte Menschen…will man sich lieber nicht ausmalen.
Es ist daher wichtig in der Gesellschaft und auch in typischen Alltagssituation das Denken über Carearbeit zu verändern – zum Beispiel wenn man über seine Mitarbeiterin schimpft, weil die wegen ihrer Kinder früher weg musste, oder die in den Schulferien Urlaub nehmen möchte und deshalb nicht so flexibel ist wie du: In 30 Jahren sind die Kinder, die deine Kollegin aufzieht, die, die dir im Altersheim die Suppe reichen.
Yvonne Weiß: Du postest interessante Urteile. Einer Mutter in London wurden 90.000 Pfund Schadensersatz zugesprochen, nachdem ein Arbeitgeber plötzlich ein Jobangebot zurückgenommen hatte, nachdem er erfahren hatte, dass sie zwei kleine Kinder hat. Welcher Fall aus deiner Praxis ist dir besonders in Erinnerung?
Sandra Runge: Es gibt wirklich sehr viele Fälle, die ich vertrete und die mir im Gedächtnis bleiben, vor allem wenn Mütter gezielt, systematisch und über einen längeren Zeitraum schikaniert und benachteiligt werden.
Ein ganz besonders schlimmer Fall war einmal, dass eine Mutter im Zusammenhang mit einer Totgeburt mehrere Kündigungen erhalten hat. Wie kann man so mit einem Menschen umgehen in so einer besonders traumatischen Situation? Wir haben zwar schlussendlich eine gute Abfindung erstritten, aber hilft das gegen die seelischen Verletzungen?
Yvonne Weiß: Was hältst du von der Idee eines gestaffelten Mutterschutzes nach Fehlgeburten, der jetzt in der Politik auch schon diskutiert wird (Link zu Interview Natascha Sagorski)?
Sandra Runge: Das finde ich sehr, sehr wichtig. Eine gesetzliche Regelung ist überfällig. Mütter müssen in dieser Situation viel besser geschützt werden. Es kann doch nicht sein, dass man sich bei einer Fehlgeburt vor der 24. Schwangerschafts-Woche krankschreiben lassen muss! Ich frage mich, warum wir erst im Jahr 2024 darüber sprechen?
FEMALE FUTURE FORCE DAY 2024
Am 12. Oktober 2024 findet der FEMALE FUTURE FORCE DAY im bcc Berlin statt! Unter dem diesjährigen Motto BRIDGE THE GAP werden die allgegenwärtigen Ungleichheiten in nahezu allen Lebensbereichen adressiert: Es geht um Gender Pay Gap, Gender Health Gap, Gender Care Gap, Gender Data Gap und so vieles mehr.
Die Teilnehmer*innen erwartet ein spannendes, abwechslungsreiches Programm auf mehreren Bühnen und Masterclass-Räumen, aber auch ausreichend Gelegenheit zum Austausch und Netzwerken. -> Zu den Tickets
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