Meine erste Reaktion auf die Frage, ob man einem Kind zu viel Liebe geben kann, ist sofort ein lautes „Nein!“. Warum auch? Warum sollte das schädlich sein? Lässt man sich die Frage aber ein wenig durch den Kopf gehen, kommen da doch Zweifel.
Liebe ist nämlich nicht nur das Gefühl, dass wir unseren Kindern entgegenbringen und die Zuneigung, die wir für sie empfinden, sondern viel mehr. Liebe heißt für Eltern auch, das Kind zu beschützen, es zu unterstützen und ihm zu helfen. Bei Liebe geht es also auch um Vertrauen, Zuwendung und um Grenzen.
Warum „zu viel“ problematisch sein könnte
Hindert die Liebe der Eltern also die natürlichen Entwicklungsprozesse eines Kindes, dann kann sie tatsächlich zum Problem werden. Es mag paradox klingen, aber übermäßige Fürsorge und das ständige Überwachen von Gefühlen und Handlungen können ein Kind emotional überlasten.
Nämlich dann, wenn es nie die Chance bekommt, selbstständig zu denken, zu handeln und auch einmal Fehler zu machen. Dann könnte sich die eigentliche Absicht, nämlich es gut auf das Leben vorzubereiten, ins Gegenteil umkehren.
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Bindung und Selbstständigkeit
Die richtige Balance zwischen Nähe und Autonomie zu finden, ist eine der größten Herausforderungen für uns Eltern. Gerade in den ersten Lebensjahren ist die Bindung zwischen uns und unserem Kind von entscheidender Bedeutung. Unsere Nähe und Liebe gibt dem Kind Sicherheit und Vertrauen in die Welt. Aber selbst im frühen Kindesalter ist es wichtig, das Kind schrittweise zur Selbstständigkeit zu führen. Alleine essen, laufen, schlafen lernen, all diese Dinge fördern das Kind darin, eine eigenständige und mündige Person zu werden, auch wenn es noch eine ganze Weile dauern mag.
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Ein zu starkes Klammern an das Kind oder übermäßige Fürsorge kann dazu führen, dass es im späteren Leben Schwierigkeiten hat, seine eigenen Entscheidungen zu treffen oder Verantwortung zu übernehmen. Kinder können eine Abhängigkeit von der beständigen Kontrolle, aber auch von der Zuwendung ihrer Eltern entwickeln, anstatt eigene Wege zu gehen. Sie werden große Schwierigkeiten haben, so eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln.
Das macht überfürsorgliche Erziehung mit einem Kind
Psycholog*innen warnen vor der Gefahr einer sogenannten „überfürsorglichen Erziehung“. Sie sprechen von einer emotionalen Überlastung, die auftreten kann, wenn Kinder keine Möglichkeit haben, ihre eigenen Konflikte zu lösen oder mit Misserfolgen umzugehen.
Kinder, die von ihren Eltern ständig „in Watte gepackt“ werden, entwickeln oft ein geringeres Selbstwertgefühl, da sie die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichend erproben können.
Sie brauchen also Freiheiten, im eigentlichen und übertragenen Sinne. Sie müssen negative Emotionen erleben dürfen und lernen, diese zu verarbeiten. Ein Kind, dem nie zugestanden wird, sich zu ärgern oder zu scheitern, verliert das Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und wird später möglicherweise mit schwierigen Situationen überfordert sein.
Das Bedürfnis nach Liebe ist bei Kindern riesengroß, aber es bedeutet nicht, dass sie ohne Herausforderungen aufwachsen sollten. Die gesunde Liebe ist deshalb auch die, die Grenzen setzt und dem Kind die Chance gibt, sich mit den Anforderungen der Welt auseinanderzusetzen.
Zu viel Nähe ist ein Problem für die Entwicklung von Beziehungen
Kinder, die ständig im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit stehen, können zudem Schwierigkeiten haben, mit anderen Kindern und auch Erwachsenen in angemessene Beziehungen zu treten. Sie sind es nicht gewohnt, auch einmal im Hintergrund zu stehen.
Eltern, die ihrem Kind keine Chance geben, Konflikte selbst zu lösen oder in sozialen Situationen aus der Komfortzone herauszutreten, fördern eine einseitige Vorstellung von Beziehungen. Das Kind lernt einfach nicht, wie es seine eigenen Interessen innerhalb einer Gruppe durchsetzen kann. Es resigniert.
Gesunde Liebe hingegen fördert die Entwicklung von Empathie, Kompromissbereitschaft und Teamarbeit – Fähigkeiten, die vor allem im Umgang mit anderen Menschen im späteren Leben unerlässlich sind.
Wie finde ich die richtige Balance?
Die richtige Balance zu finden, ist keine einfache Aufgabe. Jede Familie, jedes Kind und jede Erziehungssituation ist einzigartig. Es gibt jedoch einige Prinzipien, die Eltern helfen können, die Grenze zwischen gesunder Fürsorge und übermäßiger Liebe zu erkennen.
- Vertrauen aufbauen, statt zu kontrollieren: Gib deinem Kind Raum, eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese zu Fehlern führen. Fehler sind Lernprozesse, die wichtig sind für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung.
- Grenzen setzen: Liebe bedeutet nicht, deinem Kind alles durchgehen zu lassen. Kinder brauchen klare Regeln, die ihnen helfen, sich sicher und stabil zu fühlen. Diese Grenzen fördern nicht nur die Entwicklung von Disziplin, sondern auch von Respekt gegenüber anderen.
- Lernen durch Erfahrung: Lass dein Kind die Welt in seinem Tempo entdecken. Auch unangenehme Erfahrungen gehören dazu. Ein ständiger Schutzschirm ist nicht immer das Beste. Manchmal ist es hilfreich, das Kind auch in schwierigen Situationen alleine agieren zu lassen.
- Achten auf deine Bedürfnisse: Die Art und Weise, wie wir uns selbst als Eltern sehen und wie wir uns in der Beziehung zu unserem Kind positionieren, hat einen großen Einfluss auf die Erziehung. Stelle sicher, dass auch deine eigenen Bedürfnisse nicht untergehen.
Liebe ist wichtig, aber Freiheit ebenso
Es ist also keineswegs so, dass zu viel Liebe per se schädlich ist. Vielmehr geht es um die Form, wie Liebe gegeben wird. Zu viel Nähe, zu viel Kontrolle und zu viel Fürsorge können für die Entwicklung eines Kindes genauso schädlich sein wie ein Mangel an Zuwendung.
Die Kunst liegt darin, als Eltern zu erkennen, wann es an der Zeit ist, loszulassen und dem Kind Raum zu geben, sich selbst zu entfalten. Nur so kann aus der Liebe, die wir geben, die Grundlage für eine gesunde, selbstbewusste Persönlichkeit entstehen.
Letztlich geht es darum, unserem Kind eine sichere Basis zu bieten, von der aus es mit Selbstbewusstsein und seinen Erfahrungen die Welt entdecken kann.
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