Kennst du das auch: Meine Kinder kamen schon nach Hause und haben sich darüber beschwert, dass der eine Lehrer ‚voll unfair‘ war, bei der Bewertung eines Bildes in Kunst oder bei der Gymnastikübung im Sportunterricht. Weil Beurteilungen für Fächer wie beispielsweise Kunst aber irgendwie im Augen des Betrachters liegen und weil Kinder bei der Beurteilung von Fairness sehr eigennützig sind, habe ich auf die Anschuldigungen meiner Kinder wenig(er) engagiert reagiert.
Anders hätte ich mich sehr wahrscheinlich verhalten, wenn es um Fächer wie Mathe, Deutsch, Englisch oder Chemie gegangen wäre. Denn da gibt es wenig bis keinen Spielraum für persönliche Bewertungen einer Lehrkraft.
Umso überraschter war ich, als ich las, dass Lehrerinnen und Lehrer die Fähigkeiten von Kindern in diesen Fächern nicht immer gleich beurteilen. Tatsächlich machen sie in mathematischen und sprachlichen Fächern Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Das zeigen die Ergebnisse einer internationalen Studie deutscher, britischer und amerikanischer Wissenschaftler*innen.
Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs
Laut Forschenden würden Lehrerinnen und Lehrer Mädchen im Bereich der Sprachen und Jungen im Bereich der Mathematik tendenziell besser bewerten, als nachgewiesene Leistungen in Tests derselben Schüler*innen es zeigten.
Grundlage für diese Ergebnisse waren Daten von über 17.000 Grundschüler*innen. Zu Beginn ihrer Grundschulzeit sollten ihre Lehrerinnen und Lehrer die sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern bewerten. Im selben Zeitraum absolvierten diese Kinder Tests, die dann mit den Beurteilungen der Lehrer*innen verglichen wurden.
Die Ergebnisse zeigten: „Im Bereich Sprache werden die Fähigkeiten der Mädchen eher überschätzt und die der Jungen unterschätzt, in der Mathematik ist es genau umgekehrt“, so Studienautorin Melanie Olczyk vom Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU).
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Das Tragische: Jungen und Mädchen scheinen die geschlechterspezifische Voreingenommenheit von Lehrkräften instinktiv zu übernehmen, wie eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Denn Leistungstests am Ende der Grundschulzeit derselben Schülerinnen und Schüler zeigten, dass Mädchen ihre sprachlichen Kompetenzen weit zu denen von Jungs ausgebaut hatten und Jungen viel bessere mathematische Fähigkeiten hatten.
Vor allem im Fach Mathematik nahmen geschlechterspezifische Leistungsunterschiede sowohl in Deutschland als auch England und den USA zugunsten der Jungs zu. Sprachliche Kompetenzen konnten Mädchen vor allem in England und Deutschland deutlich ausbauen.
Mit gesellschaftlichen Erwartungen brechen
Die in der Studie nachweisbaren geschlechterspezifischen Leistungsunterschiede in Mathematik und Sprachen sind natürlich nicht das alleinige ‚Werk‘ von Lehrerinnen und Lehrern. Vielmehr ist es die Gesamtheit gesellschaftlicher Erwartungen an Kinder. Stereotypen darüber, wie Mädchen und Jungen sich zu verhalten oder zu sein haben, existieren auch heute noch. Wie oft hört man, dass Jungs nun mal sportlicher und besser in Mathe sind und Mädchen empathischer und gut in Sprachen? Schon Kinder verinnerlichen diese Erwartungen und nehmen sie an.
Deshalb ist es wichtig, diese Erwartungen nicht noch zu füttern und Kinder unabhängig ihres Geschlechts in ihren Stärken zu fördern. Damit eben nicht mehr vornehmlich Jungs technische und naturwissenschaftliche Fächer belegen und Berufe ergreifen und Psychologie, Soziologie und Bildungswissenschaften nicht vornehmlich in weibliche Hände fallen.