Inhaltsverzeichnis
- Geschwisterkonstellation in der Psychologie
- Geschwisterkonstellation: Das erstgeborene Kind
- Geschwisterkonstellation: Das mittlere ‚Sandwich‘-Kind
- Geschwisterkonstellation: Das Nesthäkchen
- Geschwisterkonstellation: Die Zwillinge
- Geschwisterkonstellation: Das Einzelkind
Obwohl Geschwister in der Regel gleich erzogen werden, können ihre Persönlichkeiten so unterschiedlich wie Tag und Nacht sein. Woher kommt das? Mit dieser Frage hat sich der österreichische Entwicklungsforscher Alfred Adler schon in den 1920er Jahren beschäftigt, u. a. in seinem Werk ‚Menschenkenntnis‘.
Laut Adler spielt es bei der Entwicklung des Charakters eines Menschen eine wichtige Rolle, ob er als erstes, mittleres oder jüngstes Kind geboren wurde. Adler macht vor diesem Hintergrund verschiedene Geschwistertypen aus, die sich jeweils stark voneinander unterscheiden.
Geschwisterkonstellation in der Psychologie
Adlers These wurde seit ihrer Veröffentlichung von vielen Wissenschaftler*innen untermauert, differenziert und ergänzt. Wir haben mit Psychologe und Buchautor Dr. Wolfgang Krüger über die Theorie der verschiedenen Geschwistertypen gesprochen und darüber, welche Charaktereigenschaften, Probleme und Stärken diese in sich tragen.
„Es ist tatsächlich zu 95 Prozent so, wie Adler sagt“, sagt Wolfgang Krüger. „Dennoch: Im Einzelfall ist es immer möglich, dass es ganz anders kommt, als man es aufgrund der Geschwisterkonstellation erwarten würde.“
Geschwisterkonstellation: Das erstgeborene Kind
Das erstgeborene Kind bekommt zunächst die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Doch irgendwann muss es verkraften, dass sich das mit der Geburt eines Geschwisterchens ändert. „Das Kind macht die schmerzliche Erfahrung, entthront zu werden“, sagt Wolfgang Krüger. „Danach muss es nicht selten bei der Betreuung der Geschwister mithelfen. Es ist sozusagen der verlängerte Arm der Eltern.“
Das prägt den Charakter: „Das erstgeborene Kind weiß, dass es Anerkennung vor allem dafür bekommt, dass es gute Leistungen bringt. Gefragt sind Hilfsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit. Erstgeborene sind daher oft leistungsorientiert – und sie bestimmen gern. Sie entwickeln sich meist schneller als ihre Geschwister, übernehmen gern Verantwortung und sind zuverlässig.“
Vor allem unter Managern und Politikern findet man typische Erstgeborene. Das ergab eine Studie der Universität Leiden (Rudy Andeweg/ Steef van den Berger, 2003). Dafür wurden 1200 niederländische Politiker befragt. Erstgeborene waren unter ihnen deutlich überrepräsentiert!
Natürlich zeigen sich die typischen Charaktereigenschaften der Erstgeborenen nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben. „Viele Erstgeborene können sich nur schwer hingeben und sind bei Zärtlichkeiten eher zurückhaltend“, sagt Dr. Wolfgang Krüger.
Geschwisterkonstellation: Das mittlere ‚Sandwich‘-Kind
Das mittlere Kind wird auch oft als „Sandwich-Kind“ bezeichnet. „Diese Kinder sind die ewigen Zweiten. Das Gute daran ist, dass sie oft besonders gut dazu in der Lage sind, ausgleichend zu wirken und sachlich zu bleiben. Sie arbeiten gern in der zweiten Reihe und sind ehrgeizig, ohne sich in den Vordergrund zu drängen“, sagt Dr. Krüger.
Die Mittelstellung in der Familie macht Sandwich-Kinder oft zu guten Diplomaten. Sie schließen Kompromisse und vermitteln zwischen ihren Geschwistern. Aber die mittlere Position kann sich laut Wolfgang Krüger auch negativ auswirken: „Schwierigkeiten hat ein Sandwich-Kind überall dort, wo es selbst mal Flagge zeigen muss.“
Doch das muss nicht so sein! „Bei einem Sandwich-Kind kommt es immer auf die Geschwisterkonstellation an. Ist es der einzige Junge oder das einzige Mädchen unter den Geschwistern, dann ist es sozusagen der ‚kleine Prinz‘ oder die ‚kleine Prinzessin‘. Dann sieht die Situation wieder ganz anders aus!“
Geschwisterkonstellation: Das Nesthäkchen
„Das Nesthäkchen bekommt besonders viel Aufmerksamkeit, denn es ist zeitlebens das jüngste und vermeintlich schwächste Mitglied der Familie“, sagt Wolfgang Krüger. „Es hat eine besondere soziale Kompetenz und Fähigkeit zur Nähe. In Partnerschaften ist es sehr zärtlich und hingebungsvoll. Das typische Jüngste lässt sich gerne verwöhnen und sucht sich einen Partner, dem es sich unterordnen kann und den es bestimmen lässt.“
Auf der anderen Seite sind Nesthäkchen oft nicht sehr konfliktfähig und selbständig. Sie sind die typischen Mitmacher. Der amerikanische Familienforscher Frank J. Sulloway ist der Meinung, dass Nesthäkchen als körperlich schwächste Mitglieder der Familie früh lernen, gewaltsame Konfrontationen zu meiden. Davon ist auch Dr. Krüger überzeugt: „Sie machen lieber Kompromisse und suchen im Streit den versöhnlichen Ausgleich.“
Während ältere Geschwister eher über die Leistungsschiene zu punkten versuchen, besitze das jüngste Kind die Fähigkeit, kokett und charmant zu sein.
„Die Jüngsten sind aber auch kreativ und aufgeschlossenen gegenüber Neuem“, so Krüger. Schließlich müsse das jüngere Geschwisterkind für sich eine eigene Nische finden, eine, die noch nicht durch ältere Geschwister besetzt ist.
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Geschwisterkonstellation: Die Zwillinge
„Zwillinge müssen immer danach streben, sich von dem anderen Zwilling abzugrenzen und etwas Eigenes zu haben“, sagt Krüger. „Vor allem eineiige Zwillinge sehnen sich oft nach einer eigenen Identität.“ Eltern sollten Zwillingen unbedingt dabei helfen, sich als individuell zu erleben. Das heißt zum Beispiel: Nicht ständig beide gleich anziehen und getrennte Hobbys und Freundeskreise unterstützen.
Zwillinge haben durch die enge Bindung zum Bruder oder zur Schwester später nicht selten Probleme, eine Partnerschaft aufzubauen. Zu eng ist das geschwisterliche Band und es fällt beiden oft schwer, loszulassen und eine andere intime Beziehung einzugehen.
Doch Zwillinge haben anderen Kindern auch etwas voraus! „Sie verfügen oft über eine hervorragende soziale Kompetenz und sind durch die ständige Anwesenheit des Bruders oder der Schwester seelische und geistige Schnellläufer“, sagt Wolfgang Krüger.
Geschwisterkonstellation: Das Einzelkind
Dieses Klischee kennt eigentlich jeder: Einzelkinder gelten als verwöhnt, weil sich im Elternhaus alles nur um sie gedreht hat. „Das kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken“, sagt Wolfgang Krüger. „Einzelkinder haben oft ein gutes Selbstbewusstsein, da sie nie erleben mussten, dass die Zuwendung der Eltern begrenzt ist. Diese Verunsicherung kennen sie nicht.“
Gleichzeitig haben viele Einzelkinder jedoch eine schwach ausgeprägte soziale Kompetenz. „Wer Geschwister hat, lernt von klein auf, für seine Bedürfnisse zu kämpfen und Konflikte auszutragen. Diese Schulung fürs Leben durchlaufen Einzelkinder nicht. Sie haben immer nur mit Autoritäten zu tun, nämlich mit den Eltern“, sagt Dr. Krüger. Die Folge: „Alles, was mit Macht und gleichzeitig sozialer Kompetenz zu tun hat, erlernen sie nicht so gut.“
Der Ur-Vater der Geschwisterforschung, Alfred Adler, schrieb in den 1920er Jahren übrigens nur wenig über die Einzelkinder. Kein Wunder: Damals hatte jedes Kind im Schnitt fünf Geschwister. Heute ist laut Bundeszentrale für politische Bildung bereits jedes dritte Kind in Deutschland ein Einzelkind.