Wie oft wird man gefragt, ob Feminismus denn noch nötig sei. Es sei doch längst alles geschafft. Viele Frauen hier in Deutschland empfinden, dass sie ein selbstbestimmtes, freies Leben führen können, dass sie tolerant sind und jenseits von alten Rollenmustern denken und agieren.
Auch wenn man Personen in seinem Umfeld fragt, ob sie Feminist*innen seien, hört man oft: „Nein, ich brauche das nicht für mich. Ich fühle mich schon gleichberechtigt“.
Aber gilt das für alle Frauen gleichermaßen in unserem Land? Ganz zu schweigen davon, wie die Situation aussieht, wenn wir über den Tellerrand hinausschauen, also global.
Viele Menschen denken bei Feminismus an die Gleichberechtigung im Sinne einer rein heteronormativen Sichtweise, also zwischen Mann und Frau. Denken an Gender Pay Gap und eine Frauenquote in Führungsetagen. Aber es geht um weit mehr.
Darum geht es Feminist*innen heute
Vielleicht ist es auch der Begriff, der manchmal in die Irre führt. Man könnte Feminismus vielleicht besser mit fairem und respektvollem Umgang miteinander und gleichen Rechten und Chancen für alle erklären. So könnte man umgehen, dass sich Menschen viel zu oft an dem Wortteil „Fem“ (vom lateinischen femina für ‚Frau‘) aufhängen, statt sich mit den wichtigen Thesen des Feminismus zu beschäftigen.
Es geht um nicht weniger als eine gleichberechtigte Welt, in der jede*r die gleichen Chancen und Rechte hat. Ein Feminismus, der nur dafür kämpft, dass privilegierte Frauen die gleichen Rechte wie privilegierte Männer bekommen, reicht da nicht, denn er lässt andere benachteiligte Gruppen außer Acht.
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Es geht um den Aspekt des sich Einsetzens für andere. Moderner Feminismus denkt alle diskriminierten Personengruppen in einer Gesellschaft mit – und zwar auch ohne zwangsläufig selbst betroffen zu sein.
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Wir denken oft aus einer privilegierten Position heraus
„Wir brauchen eine feministische Bewegung, von der alle Menschen profitieren. Doch davon sind wir weit entfernt“, schreibt auch die Autorin Sibel Schick in ihrem unlängst erschienenen Buch.
Fakt ist, dass viele Feministinnen in Deutschland auf einem extrem hohen Level kämpfen. Es geht oftmals darum, dass Frauen den Männern gleichgestellt werden, und zwar denen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie weit oben stehen.
Dabei verkennen sie, dass sie aus einer privilegierten Position heraus agieren, als heterosexuelle, cis geschlechtliche, gesunde, nicht behinderte, weiße, oftmals akademisch gebildete Mittelschichtsangehörige, so Sibel Schick.
Von dieser Art „weißem Feminismus“ profitieren folglich nicht alle Menschen gleichermaßen. Vielmehr werden mehrfach marginalisierte Frauen, also Personen, die z.B. nicht nur aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, sondern auch Frauen, die gleichzeitig von Rassismus betroffen sind, oder Frauen mit Behinderungen oder trans* Frauen – all diese Gruppen würden letztlich von den Fortschritten und den Forderungen des weißen Feminismus ausgeschlossen.
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Maßnahmen, die nur weitere Ungleichheiten erschaffen
Wenn Frauen beispielsweise fordern würden, auch in den Hierarchien aufzusteigen und in Führungspositionen zu gelangen, wie Männer eben auch, würden sie damit unbewusst das Prinzip einer hierarchischen Gesellschaft unterstützen, die ein oben und ein unten hat.
Wenn also für die weiße, cis-geschlechtliche, studierte Frau ein ebenso hoher Platz im System wie für „alte, weiße Männer“ gefordert wird, übersieht man, so die Autorin, dass das System ja eigentlich ein falsches ist.
Will heißen: Frauen lernen, wie sie in einem System, das Menschen benachteiligt und ausbeutet, am besten profitieren können, statt das System an sich zu hinterfragen und zu ändern. Denn so werden mehrfach marginalisierte Personen wieder außen vor bleiben.
„Der Feminismus beansprucht für sich, dass er Gleichberechtigung herstellen möchte. Wenn er dann aber Maßnahmen vorschlägt, die nur weitere Ungleichheiten und asymmetrische Machtverhältnisse erschaffen, dann wird dieser Feminismus dem eigenen Anspruch nicht gerecht“, sagte Sibel Schick in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau.
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„Es reicht nicht, wenn mehr People Of Color oder anderweitig marginalisierte Personen in einem Konzern sind.“
Sibel Schick
Die Bewegung des Feminismus, so die Forderung der Autorin, müsse sich hinterfragen und inklusiver und feministischer werden, um mehr Menschen anzusprechen.
„Es spielt keine Rolle, wenn mehr People Of Color oder anderweitig marginalisierte Personen in einem Großkonzern sind, wenn mehr Frauen in die Chefetage kommen. Es spielt keine Rolle, dass wir diverser ausgebeutet werden. Die Lösung ist, die Ausbeutung abzuschaffen. Und dazu müssen wir uns mit den Strukturen, die dazu führen, auseinandersetzen und sie ersetzen mit besseren, gerechteren Alternativen“, sagte Sibel Schick gegenüber dem BR.
Dann würde die feministische Bewegung an sich auch mehr Kraft und Wirksamkeit bekommen. „Der heutige weiße Feminismus“, so die Sibel Schick, „geht an der Lebensrealität von so vielen Menschen komplett vorbei.“
Wer sich tiefer mit dem Thema intersektionaler Feminismus auseinandersetzen möchte, den könnte das aktuelle Buch der Autorin Sibel Schick interessieren. Darin übt die Autorin massive Kritik an dem, wie sie ihn nennt, „weißen Feminismus“.
Sibel Schick: Weißen Feminismus canceln: Warum unser Feminismus feministischer werden muss, S. Fischer, gebundene Ausgabe ca. 23,-, hier auf Amazon* erhältlich, Erscheinungstermin: 27.09.2023