Bei den Winter-Paralympics 1998 gewinnt Verena Bentele ihre ersten Medaillen. Es ist der Beginn einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte. Im Laufe ihrer Sportkarriere erkämpft die blinde Biathletin und Skilangläuferin sich insgesamt zwölf Goldmedaillen bei den Paralympischen Spielen. Bei den Winter-Paralympics 2010 in Vancouver dominiert sie die Wettkämpfe und holt fünf Goldmedaillen. Heute ist sie Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK.
Als Biathletin haben Sie zwölf Goldmedaillen gewonnen und waren vier mal Weltmeisterin. Was würden Sie selbst als ihren größten Erfolg bezeichnen?
„Ich entscheide mich ungerne zwischen meinen Medaillen, aber ich würde sagen, dass meine letzten Paralympics in Vancouver die erfolgreichsten waren, weil ich davor einen schweren Skiunfall hatte und mich wieder zurückkämpfen musste, körperlich, aber auch mental. Da noch einmal zu gewinnen war ein Highlight meiner Karriere.“
Was sind Eigenschaften oder Fähigkeiten, die Ihnen der Profisport mitgegeben hat?
„Was wir gut gelernt haben ist, uns zu fokussieren auf die wirklich wichtigen Dinge und auf die Analyse. Also was brauche ich noch an Fähigkeiten, wo muss ich besser werden, damit ich mein Ziel erreichen kann? Was brauche ich für ein Team, damit ich mein Ziel erreichen kann?
Als Sportlerin habe ich gelernt, dranzubleiben, Ausdauer zu beweisen – auch in den Momenten, in denen ich Niederlagen erlebe. Bei Rückschlägen nicht sofort aufzugeben, ist entscheidend. In der Personalführung spricht man heute von Resilienz, die ist bei Leistungssportler*innen oft ausgeprägt, weil man die Erfahrung von Misserfolgen kennt. Für mein Leben ist das eine sehr gute Voraussetzung, um mich nicht von allem unterkriegen zu lassen.“
„Bei Rückschlägen nicht sofort aufzugeben, ist entscheidend.“
Verena Bentele
Sie erwähnen die Resilienz. Zugleich bewiesen Sie auch immer großen Mut. In welchen Momenten in Ihrer Karriere brauchten Sie besonders viel davon?
„Mut ist eine Grundvoraussetzung für jeden Menschen, der sich dem Druck von Wettkämpfen aussetzt oder in exponierte Jobs geht oder sich vor viele Menschen stellt und redet. Für all diese Menschen ist Mut die vorhandene Basis oder Ergebnis von Training und Routine.
Für jemanden, der wie ich nicht sieht, ist Mut natürlich auch physisch und hautnah wichtig. Einen Berg runterzufahren und jemandem zu folgen nur mit der Stimme, dafür braucht es Risikobereitschaft und Übung als Sicherheitsnetz. Mut ist für mich kein Moment, sondern eher eine Grundeinstellung. Ich bin kein von Ängsten gesteuerter Mensch.
Manche Menschen haben ein ausgeprägtes Angstzentrum, sind eher zurückhaltend und furchtsam und lassen sich von Bedenken leiten. Bei mir ist es anders, ich möchte meinen Bewegungsradius mental und physisch erweitern.“
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Sie haben auch nach Ihrer sportlichen Karriere immer wieder Dinge gemacht, die man Ihnen nicht sofort zutraut. Sie haben etwa den Kilimandscharo bestiegen. Waren sie als Kind schon so wagemutig?
Ich habe Eltern, die zugelassen haben, dass ich mir auch mal eine blutige Nase hole. Sie haben gefördert, dass ich Dinge ausprobiere. Mit dem Fahrrad allein rumzufahren beispielsweise, nicht nur mit dem Tandem.
Ich fand das super, weil es mich bestärkt hat, Neues zu probieren. Das bringt einen zu neuen Zielen, in neue Jobs, einfach in ganz andere Lebensbereiche. Die Angst hält zurück. Der Mut bringt weiter. Je älter, reflektierter man wird und auch mit den ganzen Rückschlägen, dadurch wird Mut immer mehr eine bewusste Entscheidung. Es geht vom Unbewussten ins Bewusste.
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Was war die größte Herausforderung, mit der Sie als blinde Sportlerin umgehen mussten, und wie sind Sie damit umgegangen?
„Die größte Herausforderung war immer, Menschen zu finden, die mit mir die Wettkämpfe bestreiten, die mit mir zu meinen Erfolgen laufen. Gleich zu Beginn meiner Karriere hatte ich einen Begleitläufer, der mir viel beigebracht hat. Unter anderem auf meine Fähigkeiten zu vertrauen und auch zu wissen, was ich wirklich brauche.
Danach gab es immer wieder schwierige Situationen. Mich hat mal mitten in der Saison eine Begleitläuferin versetzt, weil sie gemerkt hat, wie stressig Profisport ist. Ich musste mich entscheiden: Gehe ich jetzt gar nicht zum Wettkampf, oder wage ich es mit einer Person, die ich noch nicht kenne? Ich habe es dann probiert, doch es hat nicht perfekt geklappt.
Wir hatten beim ersten Lauf einen Sturz, und ich habe mir die Hand angebrochen. Bereut habe ich es trotzdem nicht, vor allem fand ich damals meine Begleitläuferin super mutig.“
„Aus der Komfortzone rausgehen heißt eben auch, andere Menschen um Hilfe zu bitten und Fehler zu machen.“
Verena Bentele
Sie sprechen regelmäßig darüber, dass das Engagement für Chancengleichheit unbequem ist. Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
„Was ich von und für Frauen ganz wichtig finde ist: Probieren Sie es mit einem JA zur Herausforderung! In Jobs, bei mir im Verband, im Ehrenamt und wo auch immer man schaut, wenn man Frauen fragt, willst du diese Aufgabe übernehmen, überlegen sie oft zuerst: Was kann ich noch nicht für diese Aufgabe?
Männer sind deutlich mehr Hands on. Die sagen einfach: Ich mach das jetzt, das werde ich schon können. Frauen agieren oft zurückhaltender. Sie sollten mehr Vertrauen haben in ihre eigenen Fähigkeiten, in ihre Möglichkeiten, in die Unterstützung ihres Umfeldes.
Aus der Komfortzone rausgehen heißt eben auch, andere Menschen um Hilfe zu bitten und Fehler zu machen. Es gibt auch spannende Studien, wenn zu Beispiel ein Drittel der ganzen Gremien, Führungsriegen etc. schon Frauen sind, dann steigt die Bereitschaft, ja zu sagen.
Die eigene Peergroup stärkt, und die muss man sich ein stückweit organisieren und suchen. Ich bin es gewohnt, andere Menschen um Hilfe zu bitten, deswegen tue ich mich da in manchen Situationen leichter.“
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Müssen Frauen mehr fordern?
„Wir müssen in jedem Fall mehr fordern. Was Frauen heute alles können sollen: Kinder, Karriere, sich dann am besten auch noch gesellschaftlich engagieren, da denke ich immer, wie soll man das alles unter einen Hut kriegen? Wir alle gemeinsam sollten fordern, die Arbeit besser aufzuteilen, zum Beispiel in der Familie.
Und wir Frauen müssen das tun, weil wir den größeren Leidensdruck haben. Für Männer hat sich nicht viel geändert in den letzten Jahren. Ein paar machen jetzt Elternzeit und fahren mit der Familie nach Sardinien für vier Wochen.
Ich bin jetzt etwas ironisch, aber ich fürchte, es entspricht leider den Tatsachen. Nach dem Urlaub wäre es doch gut, wenn auch der Partner zehn Stunden zu Hause bleibt und nur noch 30 Stunden arbeitet. Früher hat man noch gerne gehört: Das geht bei meinem Partner nicht in der Firma, für die Karriere sei Teilzeit nicht gut. Das können sich Firmen heutzutage gar nicht mehr leisten, Menschen in Teilzeit nicht zu fördern.
Das Problem ist, dass Frauen weniger verdienen, oft für die gleiche Arbeit. Auch hier müssen insbesondere Frauen mehr fordern, ohne Forderungen wird es nichts.“
Wie blicken sie auf diese hartnäckig anhaltende Ungerechtigkeit, dass Frauen und Männer nicht gleich bezahlt werden?
„Die Bezahlung ist eine große Ungerechtigkeit, dass Frauen oft für die gleiche Tätigkeit weniger Geld erhalten oder oft in schlechter bezahlten Jobs arbeiten ist ein riesiges Hindernis für die Gleichberechtigung.
Genauso ungerecht empfinde ich die Rollenbilder und die gesellschaftlichen Zuschreibungen. Besonders unschön fand ich beispielsweise, wie Annalena Baerbock zu Beginn ihres neuen Amtes permanent erklären musste, wo ihre Kinder denn sind, wenn sie reist. Kein anderer deutscher Außenminister wurde das je gefragt, selbst wenn er Kinder hatte. Da müssen wir uns sicherlich alle ein stückweit gemeinsam an die Nase fassen.
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Was wünschen Sie sich von nicht-blinden Menschen im Umgang mit blinden Menschen?
„Bitte stellt mehr Fragen und kommt nicht mit euren eigenen Erwartungen und Ängsten um die Ecke. Ein Beispiel: Mich hat heute in der U Bahn am Gleis einfach jemand weggeschubst. Die Frau dachte, es sei zu gefährlich für mich, und ich musste ihr dann erklären, keine Hilfe zu benötigen.
Die Berührungspunkte und gemeinsamen Erfahrungen zwischen Menschen, die sehen und nicht sehen oder Menschen generell mit und ohne Behinderungen fehlen leider, weil das gemeinsame Lernen in der Schule kaum stattgefunden hat. Weil gemeinsame Aktivitäten im Sport und in der Freizeit nicht stattfinden. So sind viele Menschen extrem überfordert.“
Welchen Beitrag kann der Sport für eine inklusive Gesellschaft leisten?
„Der Sport kann Vorurteile aufbrechen. Da liegt der Fokus auf der Frage: Was kann jemand erreichen, was kann jemand leisten, wo hat jemand Fähigkeiten? Beim Sport werden Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten bewertet. Sonst wird das Thema Behinderung eher als mit Defiziten, Nachteilen behaftetes Thema gesehen, und da kann Sport bei vielen im Kopf einiges ändern.“
Beim Female Future Force Day von Edition F werden Sie auf einem Panel sitzen zum Thema „Wir kämpfen gegen Hass und Hetze“, haben Sie da Erfahrungen gemacht?
„Ja, und es fängt ja im Kleinen an, dass Frauen weniger zugetraut wird. Mir wurde öfters von älteren Herren gesagt, ich dürfe gerne zuschauen, bevor ich mich um ein exponiertes Amt bewerbe, sie würden mir das nicht zutrauen.
Und mir wurde schon häufig vorgeworfen, bestimmte Probleme nicht verstehen zu können. Wenn ich mich für Vielfalt, für mehr Integration, Inklusion ausspreche, begegnen mir einige Menschen wirklich mit viel Aggression. Andere sind jedoch noch viel heftiger betroffen.
Ich habe kürzlich einen Podcast gemacht mit Ricarda Lang, was die sich alles für Mist anhören musste. Erstaunlich, wie sie das aushält. Frauen in der Parteienpolitik und im Bundestag bekommen viel ab. Und das finde ich wirklich erschreckend, und da müssen wir Frauen, aber auch Männer, uns wirklich wehren und zusammenstehen.
Wir brauchen eine wehrhafte Gesellschaft. Es ist nicht in Ordnung, Menschen beispielsweise wegen ihres Körpers zu beleidigen. Das darf nicht akzeptiert werden.“
Verena Bentele ist Speakerin beim FEMALE FUTURE FORCE DAY 2024
Am 12. Oktober 2024 findet der FEMALE FUTURE FORCE DAY im bcc Berlin statt! Unter dem diesjährigen Motto BRIDGE THE GAP werden die allgegenwärtigen Ungleichheiten in nahezu allen Lebensbereichen adressiert: Es geht um Gender Pay Gap, Gender Health Gap, Gender Care Gap, Gender Data Gap und so vieles mehr.
Die Teilnehmer*innen erwartet ein spannendes, abwechslungsreiches Programm auf mehreren Bühnen und Masterclass-Räumen, aber auch ausreichend Gelegenheit zum Austausch und Netzwerken. -> Zu den Tickets.